Donnerstag, 26. Mai 2016
Stehaufmännchen
Würde man sich im Ausland, völlig unabhängig davon welches, näher, ferner, innereuropäisch oder doch lieber Übersee, in eine Fußgängerzone stellen, wahllos und rein zufällig vorbeikommende Menschen ansprechen und diese darum bitten, ihre tagesspezifische „To-do-Liste“ für einen Augenblick zu unterbrechen um den, ihrer Ansicht nach, typischen Deutschen mit wenigen Worten grob zu umreißen, so würde man, plus minus, das gleiche Bild mental und in Farbe gepinselt bekommen.
Vor ihrem geistigen Auge sehen sie einen bierbäuchigen Mann mit Sandale und hochgezogener weißer Tennissocke, in eine Tracht gepresst, bebärtet, fleißig, pünktlich, hart artikulierend, gefühlsarm, Sauerkraut kauend und der viel gerühmten deutschen Wertarbeit zugetan. Das ist uns bekannt, das wissen wir, wir wissen es wirklich.
Aber das wichtigste Merkmal würde nicht genannt , denn es erkennt kaum jemand, es springt einem nicht sofort ins Auge, man registriert es nicht umgehend, man muss sie dafür genauestens kennen, diese Deutschen. Sie beobachten, analysieren, gar studieren. Der Deutsche ist nämlich ein: Stehaufmännchen!
Doch mit dieser These ist Vorsicht geboten, denn es sind nicht etwa die Trümmerfrauen von ‘45 gemeint, oder gar eine Nation nach schwarzgelb, vor schwarzrot.
Nein, es ist viel einfacher, gar simpel, bodenständiger. Kein Trend, keine Mode, ein Urbedürfnis quasi, von der Natur gegeben.
Der Deutsche an sich steht einfach mal gerne. Er steht gerne auf, er steht gerne an, er steht gerne rum. In dieser Hinsicht, macht uns keine Nation dieser Welt etwas vor. Es ist wirklich wahr und es ist belegt.
Flughafen Berlin. Berlin Tegel wohlgemerkt.
Wer kennt es denn nicht ? Man kommt am Hafen seiner gebuchten Flugflotte an, es ist 14:00 Uhr, man druckt sich schnell die Boardingcard aus, Fensterplatz, Boarding Time 14:40 Uhr, nein, nur Handgepäck, Laptop aus dem Rucksack, Deo, Zahncreme, Nachtcreme, Augencreme, alles in gezipptes Plastik verbannt, nun den Augen der Umwelt wehrlos ausgeliefert, Pflegeintimitäten Ade, sogleich Gürtel dem Hosenbund entrissen, auch ohne Ansage, man ist ja schließlich Profi, rotes Licht, kurzer Körperkontakt zwischen zwei Fremden, dann alles wieder gut verpackt, geschnallt und verstaut, großverpacktes Dutyfreegucken, zum Gate schlendern, abseitigen Platz suchen, Handy raus, warten. Es ist Punkt 14:10 Uhr. Boarding Time 14:40 Uhr ? Ein bloßes Zeitkonstrukt, wer das glaubt ist Anfänger!
14:20 Uhr. Man kann bereits, wenn man ganz genau hinsieht, etwas Geduld dabei beweist, sensibel dafür ist, ein erstes nervöses Zucken in den Gelenken der unteren Extremitäten Vereinzelter erkennen.
14:25 Uhr, Tendenz eher früher. Erste Individuen versammeln sich, getarnt als reine Zufälligkeit, leider durch schlechtes Schauspiel entlarvt, vor dem schmalen Ausgang, der Glastür, hinter der sich der Gang zum Flieger befindet, die Speiseröhre in den Bauch der Maschine.
14:30 Uhr. Es hat sich schon eine beachtenswerte Ansammlung von Menschen gebildet, in sauberer Formation, Gesicht nach vorne gewandt, das Ziel vor Augen. Blicke huschen auf Armbanduhren und Mobiltelefondisplays in Halbminutenintervallen, denn die Zeit muss doch schneller vergehen, wenn man sie dabei beobachtet. Alles andere wäre unhöflich und daher inakzeptabel.
14:40 Uhr. Es ist Boarding Time.
14:40 Uhr. Es wird nicht geboardet. Wie auch, wenn nicht einmal jemand vom Bodenpersonal am Gate ist? Kein Grund für die bis dato Unbeteiligten, sich nicht in die schier endlos wirkende Schlange einzureihen, die sich nun wie ein tot daliegendes Reptil durch die Stuhlreihen schlängelt. Jacke über den linken Arm geworfen, Aktenkoffer in der rechten, noch ein paar letzte SMS in den Orbit versandt, bevor man eine Stunde reine Flugzeit vom mobilen Netzt getrennt und brutalst seinen eigenen Hirnkapazitäten überantwortet wird, Ticket und Reisepass aus Mangel an ausreichend natürlichem Greifwerkzeug zwischen die Lippen gepresst. Stehen. Warten.
14:50 Uhr. Eine junge Frau, dunkler Pferdeschwanz, Ende zwanzig, vielleicht jünger, oder älter, bei den Make-up Mengen nicht zu beurteilen, komplett in rot gekleidet, Blazer, Rock, Strumpfhose, Schuhe, darin kann niemand, darin darf niemand gut aussehen, mit kessem Hütchen, bewaffnet mit Latte Macchiato im Pappbecher, stöckelt so schnell es ihre miniberockten Beine in Uniform zulassen auf den Flugsteig zu. Allein ihr Erscheinen, Heiland in Grundfarbe, der uns das Tor, hier im wahrsten Sinne des Wortes zum Himmel eröffnen wird, reißt auch die restlichen, bis dahin noch Sitzenden, um ihre intellektuelle Überlegenheit gegenüber dem allgemeinen Herdentrieb zu demonstrieren, von ihren Stühlen. Sie positioniert sich routiniert neben dem Lesegerät, greift zum Mikrofon, säusel, säusel auf Deutsch, säusel, säusel auf Englisch. Boarding !
Und jetzt, da der Startschuss unwiderruflich gegeben, drückt sich das Gebilde aus Menschenleib unaufhaltsam nach vorne. Was vorher noch als träge Masse in der Wartehalle da lag, wird mobil, erwacht zu neuer Vitalität, es wird nach vorne geprescht, es wird gedrängelt, aufgerückt, nachgezogen, näher dran, schneller rein, keinen Spalt, keine Ritze unausgefüllt lassen. Dass die Sitzplätze reserviert, gar fest zugeordnet sind, es bis zu diesem Tag noch wirklich niemals vorgekommen ist, dass die von Natur aus bösartig veranlagte Stewardess Melanie, Nachname unbekannt, noch bevor alle Passagiere einsteigen konnten, die Flugzeugtür zugeknallt hat, und durch das kleine Fenster hämisch nach draußen rief: „Ihr kommt hier nicht mehr rein!“, dann debil lächelnd, winkend in Richtung Startbahn rollt, die verdutzen Restfluggäste etwas verloren auf der Treppe zurückblieben, und während ihnen ein laues Lüftchen um die Nasen wehte, aus lauter Verlegenheit zurückwinkten, ist in diesem Moment nicht von Belang. Wo eine Menschenschlange ist, da wird sich auch gefälligst angestellt. Wir sind immerhin Deutsche.
Einen ruhigen Flug später, immerhin mussten sich alle von den Strapazen des Einsteigens erholen, ihren Tomatensaft schlürfen und das Bordjournal durchblättern, setzen die Räder des Flugzeugs auf der Landebahn auf. Bremsen, ausrollen, Parking Position, Pech, Außenposition, also, auf Busse warten, schlimmer noch, auf eine Treppe warten.
Es wären geschenkte Minuten der Ruhe, aufgezwungener Stillstand, zum Genießen freigegeben.
Aber nicht mit uns! Sicherheitsgurte klicken im Sekundenbruchteiltakt auf, man quält sich in den engen Gang, über sitzenbleibende Mitreisende hinweg, Unverschämtheit diese Trägheit, entleert unter Ziehen und Zerren das Handgepäckfach, wobei man seinem Sitznachbarn mit der überpackten Reisetasche die stilsichere Fönfrisur verwüstet, Risiko Gangplatz, Winterjacken werden übergestreift, Wollschals kunstvoll gewickelt, Handschuhe angezogen, aufgrund von Platzmangel und Streckmöglichkeiten in gar veitstanzartigen Verrenkungen. Der Hitzestau lässt Gemüter überkochen, Nerven zum Zerreißen anspannen. Die Halbglatzen glänzen vor Schweißbeperlung, Lackfinger hämmern den Entsperrungscode in Smartphones. Es folgt ein Klangteppich aus Willkommensmelodien, Anruf-in-Abwesenheit-Mitteilungen und eintrudelnden SMS. Permanentes Hinunterbeugen zu den kleinen Fenstern, aus denen man vor wenigen Augenblicken noch so spielend hinausschauen konnte als man saß, vervielfachen das Risiko eines Vorfalls an den zusammengestauchten Bandscheiben, Blut schießt in Krampfadern, der dehydrierte Organismus wird ruckartig hochgefahren. Denn eines ist gewiss und nicht zu unterschätzen: Man steht schon mal. Und zwar ab jetzt noch recht lange. Es ist nun aber mal genauso wichtig, nachdem man schnell in den Flieger hineinkam, diesen genauso schnell wieder zu verlassen, damit man als erster im Bus ist, am Gepäckband, um einen guten Platz zu ergattern, um vor den anderen dort zu sein, um vor den Koffern dort zu sein, um warten zu können, stehen zu können, stehen und warten zu können.
Und dieses Bild wird uns keiner der Befragten im Ausland zeichnen können. Aber ich. Denn ich habe sie durchschaut, die Deutschen, diese Stehaufmännchen, diese Deutschen zu denen auch ich selbst gehöre, deren kulturelles Genom ich in mir tief verwurzelt trage. Aber ich versuche diesem Urtrieb zu entgehen, mich diesem Schauspiel zu entziehen, nicht zu ihnen zu gehören. Und es ist eigentlich so einfach, verlangt zugegebenermaßen Disziplin, doch man kann sie überlisten, ihnen zuvorkommen.
Daher stelle ich mich, wenn ich mit dem Zug von Frankfurt nach Berlin fahre, auch immer schon ab Göttingen in den Gang.

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Gedanken eines Sohnes, der nicht mehr zur neuesten Generation gehört
Gedanken eines Sohnes, der nicht mehr zur neuesten Generation gehört:

Heute, auf den Tag genau, an diesem 01. September 2015, feiert mein Vater seinen 65. Geburtstag.
Um ganz genau und ehrlich zu sein, feiert er ihn erst am Freitag, aber er begeht ihn heute.
Er, mein Vater, Jahrgang 1950, begeht heute seinen 65. Geburtstag!
Aber was ist mit mir, was bedeutet das für mich?
Das Verständnis von dem Begriff „Alter“, alt sein, verändert sich im Verlaufe eines Lebens. Dieses Wort, das von Natur aus etwas nicht Greifbares - ja was eigentlich? Vielleicht einen Zustand? - benennt, verändert demnach seine Bedeutung und Wertigkeit im Fortschreiten des eigenen Daseins.
Als Kind, das weiß ich noch genau, habe ich meiner Mutter mal von einer älteren Frau erzählt.
„Wie alt war sie denn?“, fragte sie daraufhin.
„Etwa 30“, war die Antwort.
Mein Einschulungsfoto zeigt meine damals dreißigjährige Mutter, demnach bereits eine ältere Frau, die ihren Sohn, inklusive seiner riesigen Schultüte, zum ersten Unterrichtstag begleitet.
Mein Kind, sofern ich denn eines hätte, wäre nun auch schon in der siebten Klasse.
Wann hat man denn bitte, ohne es zu bemerken, seine Eltern eingeholt? Und noch viel schlimmer, warum fühlt man sich dabei immer noch wie dieser kleine Schuljunge?
Inzwischen würde ich auch 65 nicht mehr als „alt“ bezeichnen, dennoch ist es schon eine Ansage, die mir in unachtsamen Momenten, in schwachen Augenblicken, im Beisein vom Gefühl der Einsamkeit, ungute Gedanken, ganz leise und zunächst unmerklich, ins Hirn flüstert, bis sie, die Grenze der Ignoranz überschritten, mit voller Wucht auf mein Bewusstsein knallen.
Manchmal, spätabends, oder auch frühmorgens, wenn das Badezimmerlicht ein wenig zu schnell den Raum erhellt, das Licht von den vergilbten Kacheln reflektiert, eine Spur zu grell auf das schon ermüdete, oder noch verquollene Gesicht trifft, bevor ich den Spiegel des Alibert gewohnheitsgemäß rasch zur Seite klappen konnte, wird es mir bewusst. Manchmal, in sorgenvollen Momenten, oder in arbeitsreichen, in stressvollen, schwierigen Zeiten, wenn ich vergesse, mir gegenüber aufmerksam zu sein, erschrecke ich bei einem Blick auf das eigene, zurückschauende Spiegelbild, vielleicht im dunklen Fenster der durch den Tunnel rauschenden U-Bahn, kurzzeitig.
Die innere Wahrnehmung, weicht von der äußeren ab und eines ist gewiss... unsere Eltern werden älter und ziehen uns, wenn auch unverschuldet, unbarmherzig mit sich.
Natürlich taten sie das schon immer, aber es dauert eine gewisse Zeit, bis es einem selbst bewusst wird.
Ich, bereits das Ende meiner Dekade in Sichtweite habend, kann mich noch genau an den 40. Geburtstag meines Vaters erinnern, der nun inzwischen in absehbarer Zeit mir selbst bevorstehen wird.
Wird das schwierig? Gute Frage. War es denn schwierig 30 zu werden? Nein, nicht wirklich. Es war schwieriger Ende 20 zu sein. Es ist eine reine Kopfsache, denn am Ende von etwas zu stehen ist erfahrungsgemäß schwieriger, als am Anfang von etwas zu sein. Demnach dürften auch keine größeren Probleme beim 40. auftreten.
Im Nachhinein eh alles nicht so schlimm.
Wo liegt also das Problem?
Problem? Das Problem? Probleme... Es sind Probleme. Es sind eigentlich genau zwei Probleme.
Erstens, man ist nicht alt. Zweitens, man ist nicht jung. Dazwischen, man ist irgendwie so dazwischen. Nicht Fisch, nicht Fleisch.
Das Tempo, in dem die Zeit vergeht, kann einem schon Furcht einflößen. Sie vergeht zwar nicht schneller, das ist pure Einbildung, aber sie vergeht dennoch stetig und man hört sich auf einmal über Dinge sprechen, die Jahrzehnte zurück liegen und dennoch ganz klar in der eigenen Erinnerung sind - Weißt du noch damals? - Schon gruselig, aber auch aufregend - ein bisschen wie Verkehrsunfall gucken.
Und darin liegt vielleicht auch der Knackpunkt beim Geburtstag meines Vaters. Die gemeinsame Strecke, die uns beiden bleiben wird, ist erwartungsgemäß kürzer, als die, die wir bereits zusammen gegangen sind und das, genau das, mag ich nicht am älter werden.
Sind wir denn wirklich schon erwachsen?
Äußerlich schon lange, aber innendrin, da sitze ich noch immer mit Oliver, Eddi, Vivianne, Nicki, Mimi, Katrin, Bärbel, Joachim und all den anderen auf den Mülltonnen, oder spiele „Räuber&Gendarm“ um vier Blocks, oder „Street Fighter 2“ bei Cola und Äpfeln.
„Wer nicht alt werden will, sollte sich jung erschießen“, sagt meine Mutter immer.
Ein wahres Wort gelassen ausgesprochen.
Was bleibt uns also zu tun, uns, die wir in einer Gesellschaft leben, in der wir vorgegaukelt bekommen, Jugend sei das größte Gut, Photoshop uns den Blick verklärt hat, die in Klammern gefasste Zahl hinter dem Namen eines Künstlers, Sportlers, eines Menschen, mehr wert ist, als seine Kunst, seine Leistung, sein Charakter, seine Erfahrung und Persönlichkeit?
Ganz einfach.
Man blicke auf die nachkommenden Generationen, beneide sie ein wenig um das straffe Hautbild und das volle Haar, belächle sie danach für ihre Angst vor dem Leben und ihren unerfahrenen Umgang mit den Widrigkeiten des Alltags, übertrumpfe sie dann mit der eigenen Überlegenheit und Großartigkeit, und lehre sie somit den gelassenen Umgang mit dem Wahnsinn des Lebens.
Es ergibt sich ein Fazit:
Siehst du, Papa, ich habe zwar noch nicht ausgelernt, stehe aber, glaube ich, ganz gut da. Und wenn dein Sohn aus den ersten Anflügen seiner Midlifecrisis heraus ist, kann uns diese Welt von gebotoxten Ewig-Endzwanzigern, mal gepflegt am Arsch lecken.
Ich wünsche dir alles Liebe zu deinem Geburtstag!

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Mittwoch, 25. Mai 2016
Ein Mann von fast 40 - Eine Bilanz
Ein Mann von fast 40... eine Bilanz

Ich hätte freiliegende Zahnhälse, sagte mir meine Zahnärztin vor nun etwa zwei Wochen ganz unverfroren ins Gesicht. Ich, der sich mit weit aufgesperrtem Mund auf den Praxisstuhl geparkt hatte, brav und vorbildlich meiner halbjährigen Kontrolluntersuchung nachkommend, schenkte dieser Bemerkung nicht viel mehr als ein Achselzucken des Desinteresses. Mit einem Finger in der Backentasche rechts und einem Absauger in der Backentasche links sind die Prioritäten in einer kopflastigen Schrägstellung, weiß Gott, anders verteilt. Es gäbe zwei Möglichkeiten für diesen Defekt, so Frau Doktor weiter, entweder handele es sich dabei um Putzfehler oder... nun ja, Männer in meinem Alter bekämen das dann halt mal langsam.
...
..
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Männer in meinem.... Männer in meinem was, bitte ?

Ist es also nun so weit, dass ich ein Alter habe für etwas ?
Vorbei anscheinend die Zeiten, in denen mir braungebrannte Bikinischönheiten ihre Telefonnummern zusteckten, mich zum Liebemachen auf bengalischen Tigerfellen einluden, mich, den Hengst, den Stier. Nun steckt mir wohl nur noch mein Hausarzt unter wissendem Nicken Broschüren zum Thema Prostatavoruntersuchung zu und mein Urologe steckt mir allenfalls den behandschuhten Finger in den.... aber lassen wir uns nicht zur Theatralik verleiten.

Gestern, an meinem Geburtstag, ziehe ich also Bilanz, stelle mich nackend vor den Spiegel im Wohnzimmer und blicke, die Augen nicht wie sonst auf leicht unscharf gestellt, hinein. Das nichtvorhandene Neonlicht des Bades ist ein deutlicher Pluspunkt bei dieser doch recht mutigen Kamikazeaktion. Neonlicht, das sich in jede einzelne... dann fahl erscheinende ... gräbt... Neonlicht... Georges Claude, schmore in der Hölle, du elender Hurensohn.

Zunächst einmal die rückwärtige Ansicht geprüft, denn das wahre Alter eines Mannes lässt sich an asymmetrisch hängenden Arschbacken erkennen. Dank der Vorliebe meines Fitnesstrainers für Kniebeugen droht hier jedoch keine Gefahr.

Die Vorderansicht ist auch gar nicht mal so übel. Bei richtiger Neigung des Oberkörpers während eine zeitgleiche Stilllegung der sauerstoffversorgenden Atmung stattfindet und die Bauchdecke schmerzhaft straff eingezogen wird, ist so etwas ähnliches wie ein Sixpack zu erkennen... nee, sogar ein Eightpa... vergiss es, doch nur ein Sixpack... ausgeatmet und weg.

Was auf dem Kopf seit nun zwanzig Jahren mit Abwesenheit glänzt, nimmt hingegen am Restkörper langsam unnatürliche Ausmaße an... Haar. Tägliche, halbstündige Duschen führen, bei intensiven Schabbewegungen per Rasierklinge zur stoppelfreien Körperoberfläche. Ich kratze mir das Restkranzhaar vom Kopf und das eingestreut graue Barthaar vom Kinn, glätte Schultern, Rücken und Oberarme, die kleine Kuhle unterhalb des Kehlkopfes, Finger und Fußzehen, den Bauch, bis auf die schmale Pornolinie, die immer so viel Aufsehen erregt und wahnsinnig gut ankommt, die Intraglutealfalte und das Skrotum, stutze Brusthaar, Achselhaar, Beinhaar, Armhaar, Schamhaar, flamme die Ohren, zupfe die Augenbrauen, rupfe Nasenhaar. Das alles nur, damit ich nicht aussehe wie etwas, das unsere Katze früher immer hochwürgte, nachdem sie Gras gefressen hatte.

Zwischen den Beinen baumelnd... nun ja, die Schwerkraft schlägt, trotz enganliegender australischer Herrenunterwäsche, auch hier zu. Besser gesagt sie zieht... und zwar lang. Leider nicht vorne, sondern hinten. Und somit ist die Hälfte des Oberschenkels schon als Strecke gutgemacht und es lässt sich sagen, die Glocken sind länger als das Seil.

Ich schaue mir ins Gesicht, seit Langem, sehe die Linien um die Augen, die in so vielen großartigen Momenten reingelacht worden sind, die Stirnfalten, die deutlich zu häufig zum Zuge kommen, wenn ich mir mal wieder Sorgen mache und die leichte Zornesfalte zwischen den Augenbrauen, die ich den Leuten verdanke, deren Namen bei mir auf der Liste stehen und die ganz genau wissen, wer sie sind. Die großen, ein wenig traurig abfallende Augen, die skurrile Nase, deren Spitze sich beim Sprechen bewegt, die abstehenden Ohren, durch die das Scheinwerferlicht von hinten durchscheinen kann, wodurch sie dann ganz rot glühen und mein Kopf aussieht, wie die Korona einer Mondfinsternis.

Okay, die Bilanz, ein Mann von 39 Jahren, nicht mehr und nicht weniger. Nicht der Schöne, sondern der Charakterkopf. Erfahren genug, um keine Angst mehr vor der Zukunft zu haben, seine Meinung laut auszusprechen und die Konsequenzen zu tragen. Kindlich genug, Mama und Papa um Rat zu fragen, zum Einschlafen Kassette zu hören und heimlich nachts aufzustehen, um Schokolade zu essen.
Und da ich weiß, dass Maggie Smith großartiger ist als Nicole Kidman und es auch immer sein wird, bin ich nun bereit für das letzte Jahr dieser Dekade.
Die 40 kann kommen, denn auch da werde ich weiterhin fabelhaft sein !
Weshalb ich mir da so sicher bin ?
Solange mich meine Nachbarin unentwegt per Fernglas dabei beobachtet, wie ich mich naggisch vor dem Spiegel betrachte, kann es noch nicht so schlimm sein.

Ich bedanke mich auf das herzlichste für die vielen Glückwünsche zu meinem Geburtstag.
Und falls jemand einen guten Zahnarzt empfehlen kann... ich bräuchte nämlich einen neuen, meine erkennt ja nicht einmal Putzfehler !

Mit den allerliebsten Grüßen... der Herr Kargus

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Ostern in Berlin
Geht, zündet eine Kerze an und tut Buße, seid dankbar in Demut!
Es ist überstanden. Endlich. Erneut.
Man kann sich wieder auf die Straße trauen, jeder von euch, die süße Luft der Freiheit atmen, sie ist vorüber, die Osterzeit.
Osterzeit bedeutet hier, hier in Berlin Schöneberg: Lederzeit!
Jedes Jahr wiederholt sich, ironischerweise umrahmt von den höchsten Feiertagen des Christentums, das gleiche, unansehnliche Schauspiel. Zwischen der Kreuzigung und Wiederauferstehung von Gottes Sohn fällt eine Horde aus aller Welt anreisender homosexueller, in gegerbte Kuhhaut gepresster, Lederfetischisten in der Hauptstadt ein und verwandelt das Stadtbild in ein Minenfeld für unbefleckte und arglose Augäpfel.
Der erfahrene und somit wissende Ortsansässige verlässt daher frühzeitig und fluchtartig die schutzbietenden Stadtmauern und kehrt erst wieder in seine Heimat zurück, wenn diese Invasion vorüber und überstanden ist, und diese ganz besondere zillige Milljöhstudie weitgehend die Abreise angetreten hat.
Ich, ich habe es nicht mehr raus geschafft, bin dageblieben, war naiv, unbedacht, und musste somit das sehen, was es zu sehen gab. Dinge, die ich niemals sehen wollte. Dinge, die ich vielleicht niemals wieder vergessen werde, vergessen kann.
Seit Karfreitag streiften sie durch Schöneberg, drehten ihre Runden zwischen Maaßenstraße und Nollendorfplatz, flanierten durch Motz- und Fuggerstraße. Ein Hardcore-Catwalk in Ranger Boots, Lederchaps und Bomberjacke, in Bleachers Jeans, Harnischen, Lederhosen und nietenbesetzten Halsbändern. Manchmal, und gar nicht mal selten, gekrönt von einem Lederkäppi. Diese gewollt kerlige Klamotte täuschte jedoch nicht darüber hinweg, dass man mitunter die größten Tunten der Nation in geballter Ladung vor sich stehen hatte. Mir macht man nichts vor, dennoch ertappte ich mich bisweilen gaffend. Betrachtete diese Kostümparade auf dem Winterfeldtmarkt und bei KAISERs an der Kasse, leicht amüsiert, oftmals ungläubig, aber stets mit höchster Contenance.
Eines ist gewiss, Angst muss man keine haben, die tun einem nichts, auch wenn sich meine Mutter vor einigen Jahren, über Ostern gerade zu Besuch in Berlin, wunderte, dass so viele Neonazis unterwegs seien. Eine Verwechslung, hervorgerufen durch optische Irritation. Also bitte, das könnte jedem passieren.
Individualität als anscheinendes Ausschlusskriterium der Lederszene, lässt sie sich gleichen, wie ein Ei dem anderen, selbige schätzungsweise inbegriffen.
Eines meiner größten Probleme bereitete mir in diesen Tagen jedoch die physiologische Grundausstattung des landläufigen Ledermannes, da diese meinem eigenen Phänotyp zu einhundert Prozent gleicht. Die Glatze ist ein vorausgesetztes Must-have, eine mehr oder minder gebändigte Bartkreation, semiprominente Brustmuskulatur mit flächendeckendem Haarwuchs, sowie eine überdimensionierte Sonnenbrille, die natürlich nach eigenem Ermessen absetzbar wäre. Und somit war ich auf einmal einer von ihnen, gehörte dazu und nahm teil, ohne Teilnehmer sein zu wollen.
Aber nicht mit mir, meine Herren! Die Lösung: Abgrenzung durch Design! Ich hüllte mich also über die Osterfeiertage in vollem Bewusstsein großzügig in Paisleymuster, florale Seidenhemden und blumiges Parfum. Auch mal eine Erfahrung, und, weiß Gott, keine schöne. Ebenso unschön war das disharmonische Odeur-Quartett, das die vermeintlich harten Jungs umspielte und durch die Straßen wehte. Eine Geruchsmischung aus Schweiß eines älteren Semesters, Poppers, Lederimprägnierspray und Crisco Bratenfett.
Wer es denn mag?!
Ich übte mich in christlicher Nächstenliebe, saß, umschlungen von einer Aura der absoluten Toleranz, in einem Café und schaute gelassen auf barpopoige Männer, die ihre Freilufthängebacken zur Schau stellten, bevor sie nach Sonnenuntergang in den Bezirksdarkrooms verschwanden, um in die Analen der unterarmigen Einfuhren einzugehen.
Ostern ist vorüber. Die Toleranzgrenze wieder abgesenkt. Die Leder-Dollys haben ihre Designer-Trolleys gepackt und wackeln in Richtung Flughafen Tegel.
Und hier stehe ich nun, als einsame Delegation, winke und lächle ihnen hinterher. Ihnen, die sie ihre Heimreisen zurück ins dörfliche Idyll antreten, aus dem sie vor 5 Tagen in Richtung sündhaftes Berlin aufbrachen, mit nicht weniger ausgestattet als ihren Begierden, Verlangen und Lederchaps. Derangiert sehen sie aus, übernächtigt, zu viele Drogen, noch mehr Alkohol, und vielleicht ein wenig ausgeleiert, geht es nun zurück in die Provinz. Der Traum des bösen Jungen, des Bad Boys, ist für dieses Jahr ausgeträumt. Das „Urbi et Orbi“ ist gesprochen. Und bevor Herr Wenzel, aus der Sparkasse in Dierfeld, und Herr Köhler, aus dem ansässigen Steuerbüro in Wiedenborstel, die frischgefettete Lederkluft wieder nach hinten in den Kleiderschrank hängen, rufe ich ihnen ein allerletztes mal hinterher: „Frohe Ostern... aus Berlin.“

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Kathi und die Homoehe
Kathi, Kathi, Kathi ... das war, glaube ich, nicht so klug. Nein, Kathi, das war leider so ganz und gar nicht klug, das war, sagen wir mal, ja, das war dumm ! Und zwar so richtig ... dumm, dumm !
Ach, wie schön, man macht Abitur, studiert Chemie in den USA und in Finnland, schnüffelt dabei zwar zu häufig, aber dafür zumindest mit Leidenschaft an leckeren Chlorverbindungen, Hirnzellen sind Massenware, so glaubt man, man tritt in eine Partei ein, CDU, weil: Will wertvolle Werte wahren! Dort lernt man dann auch noch den Mann fürs Leben kennen, zeugt, was das Zeug hält, ganze drei Mal Kindergeld, Reihenhäuschen, bunte Halstücher, Fönfrisur, schreit „Ja“ zur Atomenergie und „Nein“ zur Homo-Ehe, man ist richtig, normal, gut und gerade, durchschnittlich geschnittener Durchschnitt.
Es könnte, summa summarum, so schön sein. Wäre da nicht dieser lästige Rest, der nicht in das eigene Weltbild passt ... Ökos, Homos, Freigeister ... Es hat lange gedauert, und es ist eine harte Lektion, ich habe sie gelernt, und du, Kathi, kannst das auch schaffen ! Die anderen Menschen um dich herum haben ein eigenes Leben, nur eins, das sie leben wollen wie sie möchten, wie es ihnen richtig und wertvoll erscheint.
Das Thema dieser Woche ist also, nach den drei großen Ps: Pferdefleisch, Papstrücktritt und Pistorius ... die Homo-Ehe. Warum auch nicht, hatten wir schon länger nicht mehr !
Und da sitzt sie nun, Katherina Reiche, betet im säuselnden Mitschrifttempo ihre brav auswendiggelernten Dumpffloskeln herunter, und wir lernen, dass man die Keimzelle der Gesellschaft, die Ehe und die Familie, schützen müsse. Und hier kommt nun endlich die Frage, die Herr Jauch- Günther, mein Günther- nicht gestellt hat, hätte stellen müssen, die mir so unsagbar schmerzhaft unter den manikürten , auf Hochglanz polierten Nägeln brennt: Wovor ? Gibt es da Draußen ein homosexuelles Überfallkommando, von dem ich bisher nichts weiß ? Werden nachts heterosexuelle Paare von wildgewordenen Trümmertransen, Jungschwuchteln, Ledertrinen und warmen Brüdern aus den Betten gezerrt, Frauen bekommen Kurzhaarschnitte und Holzfällerhemden verpasst, Männer ein Brustwarzenpiercing und eine Intraglutealfaltenrasur ? Sollte dies so sein, Frau Reiche, dann schließe ich mich Ihrem Protest an !
Aber nein, hier geht es ja auch vielmehr um ein Ehegattensplitting, eine steuerliche Sache, eine Geldfrage. Ja, ja, ja, Männer verdienen mehr als Frauen. Wir schreien Diskriminierung, zu recht, aber nicht jetzt. Und ein schwules Paar besteht sogar aus zwei Goldeseln, die Dukaten ... bricklebrit ... darf man sich ja nicht entgehen lassen.
Du kannst, weiß Gott, natürlich nichts dafür, Kathilein. Der Fortbestand der Gesellschaft lastet nun mal auf den Schultern der Paare, die aus einem Mann und einer Frau bestehen. Diese müssen unterstützt ... entschuldige ... geschützt ... diese müssen geschützt werden, damit sie in aller Ruhe bumsen können, damit wir Deutschen nicht aussterben. Weil, das hast Du uns ja gelehrt, schwule Männer und lesbische Frauen, keine Kinder zeugen können. Bei allem gebührenden Respekt, Frau Reiche, glauben Sie mir, seit meinem elften Lebensjahr bin ich durchaus in der Lage Kinder zu zeugen, mehrfach am Tag, mühelos und sanft lächelnd. Biologisch gesehen, ein ganzer Mann ! Aber ich weiß, was sie meinen und ich will Ihnen da als Diplomchemikerin auch keinen Vorwurf machen, klare Fakten, statt warmer Worte. Wohl wahr, mein Freund und ich werden wohl kein Kind gemeinsam zeugen, also kein Ehegattensplitting. Pech für uns. Was machen wir aber mit diesen karrieregeilen Jet-Set-Paaren, den unfruchtbaren Männern, den Frauen in der Menopause ? Erklären Sie der Frau mit Gebärmutterhalskrebs und deren Mann, dass sie jetzt, wo es wohl mit Kindern nichts mehr wird, am Montag Post vom Finanzamt im Kasten haben werden ? Nachzahlen statt Nachwuchs !
Zur Not adoptiert man halt ein Kind ... also, die Normalen. Homopärchen gibt man lieber keins, denn für eine gesunde Entwicklung braucht so ein kleiner Mensch nun mal eine männliche und eine weibliche Identifikationsfigur. Hört, hört, ihr Kindergärtnerinnen und Grundschullehrerinnen, eure Tage der Vorherrschaft zur Unterdrückung des männlichen Geschlechts sind gezählt ! Hört, ihr alleinerziehenden Mütter, gebt euer Kind an der nächsten Sammelstelle ab !
Warum bleibt , aber vielleicht geht es auch nur mir so, bei der Diskussion um das Adoptionsrecht für homosexuelle Paare immer dieser fahle Beigeschmack von Pädophilie und die irrationale Angst, der kleine Junge würde in rosa Kleidchen gesteckt, damit er auch mal, wie unser aller Göttin, Olivia Jones, als Damenimitator mit Barbra Streisand-Playbacks durch verrauchte Stricherlokale tingeln wird !
Fazit, Kathi-Maus, Toleranz schreien und Toleranz leben sind zwei verschiedene Dinge.

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Dienstag, 24. Mai 2016
Flagshipstore
Es muss gestern gewesen sein, als ich, vermutlich aus versehentlicher Langeweile heraus, Facebook öffnete und mein Blick auf eine Statusmeldung fiel, verfasst von meiner ehemaligen Schwarzburgstraßennachbarin Bianca G., in der sie sich über das Verhalten eines jungen Verkäufers in einem Apple Store in Frankfurt am Main, nennen wir es ruhig beim Namen, auskotzte. Diese Geschichte werde ich hier nun wirklich nicht zum besten geben. Dadurch angeregt jedoch, ist mir folgendes Ereignis wieder in den Sinn gekommen, das sich in diesem Sommer, und Gott ist mein Zeuge, Dominik übrigens auch, tatsächlich und detailgetreu so abgespielt hat.
Die Geschichte begann mit einem etwas schrillen Schrei aus unserem Badezimmer, der Bianca P., just in diesem Moment auf unserer Couch gastierend und nicht mit der anfänglich erwähnten gleichnamigen Person zu verwechseln, und mich aufschrecken ließen. Was war geschehen ? Ein Badewannensturz ? Eine Nasenhaarentfernung ? Ein Spiegelblick über Schulter in knappsitzender Herrenunterwäsche ? Es war viel profaner und zugleich um so viel dramatischer.
Dominiks Telefon, nein, Dominiks iPhone, war vom Badezimmerschränkchen gerutscht und, beschleunigt durch eine unbarmherzige Erdanziehungskraft, die man, wenn man es denn kann, auch bestimmt errechnen könnte, ich kann es nicht, volle Granate auf die sanierungsbedürftige Badefliese, Ecke voran, aufgeschlagen. Das hatte zur Folge, dass das Display komplett, und zwar so was von komplett, gesplittert war. Armer Dominik. Ich sehe ihn förmlich vor mir, wie er sich, nachdem er das dumpfe Geräusch von überteuertem Elektroschrott auf Altkachel vernahm, mit seiner Zahnbürste zwischen den Lippen hinabbeugte und Stoßgebete gen Himmel schickte- 2,3 mm dickes Glas sei doch bitte belastungsfähiger als 1,4 cm dicke, gebrannte Uraltkeramik... Dominik, das ist es nicht !
Unser Weg führte uns also in den Apple Store auf dem Ku’damm. Den Vorzeigeladen. Den Flagshipstore. Adresse: Kurfürstendamm 26. Man steht, zugegeben, vor einem durchaus imposanten Gebäude, das mit seinen vier ionischen Säulen eher an einen antiken Tempel denken lässt, als an ein Fachgeschäft für Elektroobstzubehör. Der Begriff „Konsumtempel“ kommt in diesem Fall selbst in der Architektur zu seinem Recht, Chapeau Apple, Chapeau.

Betritt man das Heiligtum, so findet man sich vor Hellholztischen wieder, die, der Flucht folgend, die Anmut einer Kathedrale heraufbeschwören, worauf die Produktpalette präsentiert und von den wandelnden Konsumjüngern angebetet wird. Hellbraune Tische, hellgraue Wände, helles Licht, helle Displays, hell, heller, am hellsten, erhellt... Hölle.

Wir wandelten mit. Wandelnd auf der Suche nach einem Verkäufer... Einer männlichen Tempeltänzerin der Gattung Informatiknerd mit Außenseiterproblematik, gehüllt in blaues T-Shirt mit Apfellogo auf Herzhöhe. Jetzt darf man in dieser aufpolierten Hochglanzwelt natürlich nicht davon ausgehen, dass man von diesen jungen und dynamischen Menschen, mit Dauergrinsen auf Du-und-Du Ebene, einfach mal so und nebenbei bedient wird... nein... also bitte... das grenze ja an Lächerlichkeit... nein, man bekommt einen Termin. Richtig. Einen Termin ! Jetzt bekommt man also schon Termine in Läden, in denen man etwas käuflich erwerben kann und möchte. In naher Zukunft wird man demnach wohl gezwungen werden, bei KAISER’S im Vorfeld telefonisch zu reservieren. Urlaubstage zugunsten Konsumbefriedigung. Nahrungsmitteleinkauf anstelle von Badeurlaub an Südseestränden.
-Morgen um 18 Uhr wäre etwas frei.
-Ist das ein Scherz ?
-Nein.
-Okay, man will ja nur sicher sein, dass man es auch verstanden hat.

Der nächste Tag. Zurück am Kurfürstendamm 26. Im Flagshipstore. Bei Apple.
Wir waren nicht vorbereitet, wir waren naiv. Man reihte sich ein in Reihen, um dann, endlich an der Reihe, in eine andere Reihe eingereiht zu werden. So landeten wir letztendlich in der Reihe von Joe. Joe, der, seien wir ehrlich, sehr wahrscheinlich von seinen Eltern auf den Namen Joachim getauft wurde, stand, getrennt durch vier oder fünf Personen, vor uns und koordinierte die hörig aufgereihten Präkonsumenten, in dem er wild auf seinem iPad wischte und in sein Mikrofon säuselte, das an der linken Schulter seines
T-Shirts festgeklemmt war, wodurch er den Stoff beim Sprechen immer zu seinem Mund ziehen musste, was zum Ausleiern der Bündchen führte, an die maximal zwei Meter entfernten Kollegen weiter... es lebe die Telekommunikation. Hörbares persönliches miteinander Reden auf Kurzdistanzen ist anscheinend out... Bravo Apple, Tröpfcheninfektionen adé !
Plötzlich, ein Aufheulen an vorderster Front. Vor Joe stand eine geschätzte Mittdreißigerin im punkigen Outfit, etwas verschieden farbiges Haar auf der einen, dafür etwas weniger Haar auf der anderen Seite, Typus, Achtung es folgt ein Klischee, auf der Oberbaumbrücke an der Warschauer Straße sitzend vorzufinden und mit dem Hund das Essen teilend... Ich bin eine Randgruppe, ich darf so etwas sagen.
Diese Frau stürzte also aus der Reihe, schluchzend, heulend, mit großem Drama im Stile der frühen Stummfilmära, fiel, etwas zu theatralisch für meinen Geschmack, auf die ausgestellte MacBookPro Serie und begann, in Kleinmädchenweinkrampfmanier, auf die Tastatur einzuhämmern. Also, nein, man darf doch sehr bitten, Contenance, s’il vous plaît.
Das Beste jedoch daran war, es schien niemanden der Anwesenden zu stören. Kein Aufblicken, kein Getuschel, nur das in regelmäßigen Abständen ertönende, durch die Apple-Hallen hallende, herzzerreißende Gejammer dieser Frau, die, wie aus einer anderen Welt wirkend, sich in diese nun verlaufen, verzweifelt versuchte, sich heraus zu hacken. Und weil sie optisch nicht in die geweißte Designerwelt des Leuchtapfels passte, bekam sie auch keine Aufmerksamkeit und schon gar kein Mitleid geschenkt.
Wir standen auch nur da in unserer Reihe, wir hatten schließlich einen Termin wahrzunehmen, beobachteten das Szenario und begannen zu überlegen, was hast du, Joe, nur dieser Frau gesagt, dass sie so aus der Fassung geriet, was nur ?
-Tut mir leid, du Punkfrau, aber du darfst keinen Apple Computer haben ?
Böser Joe, böser !?
Aber wir werden es wohl bedauerlicherweise niemals erfahren, denn dieses Geheimnis bleibt Joes Geheimnis, das er mit in sein Grab nehmen wird.
In sein Grab unter dem Apfelbaum...

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