Mittwoch, 25. Mai 2016
Ostern in Berlin
Geht, zündet eine Kerze an und tut Buße, seid dankbar in Demut!
Es ist überstanden. Endlich. Erneut.
Man kann sich wieder auf die Straße trauen, jeder von euch, die süße Luft der Freiheit atmen, sie ist vorüber, die Osterzeit.
Osterzeit bedeutet hier, hier in Berlin Schöneberg: Lederzeit!
Jedes Jahr wiederholt sich, ironischerweise umrahmt von den höchsten Feiertagen des Christentums, das gleiche, unansehnliche Schauspiel. Zwischen der Kreuzigung und Wiederauferstehung von Gottes Sohn fällt eine Horde aus aller Welt anreisender homosexueller, in gegerbte Kuhhaut gepresster, Lederfetischisten in der Hauptstadt ein und verwandelt das Stadtbild in ein Minenfeld für unbefleckte und arglose Augäpfel.
Der erfahrene und somit wissende Ortsansässige verlässt daher frühzeitig und fluchtartig die schutzbietenden Stadtmauern und kehrt erst wieder in seine Heimat zurück, wenn diese Invasion vorüber und überstanden ist, und diese ganz besondere zillige Milljöhstudie weitgehend die Abreise angetreten hat.
Ich, ich habe es nicht mehr raus geschafft, bin dageblieben, war naiv, unbedacht, und musste somit das sehen, was es zu sehen gab. Dinge, die ich niemals sehen wollte. Dinge, die ich vielleicht niemals wieder vergessen werde, vergessen kann.
Seit Karfreitag streiften sie durch Schöneberg, drehten ihre Runden zwischen Maaßenstraße und Nollendorfplatz, flanierten durch Motz- und Fuggerstraße. Ein Hardcore-Catwalk in Ranger Boots, Lederchaps und Bomberjacke, in Bleachers Jeans, Harnischen, Lederhosen und nietenbesetzten Halsbändern. Manchmal, und gar nicht mal selten, gekrönt von einem Lederkäppi. Diese gewollt kerlige Klamotte täuschte jedoch nicht darüber hinweg, dass man mitunter die größten Tunten der Nation in geballter Ladung vor sich stehen hatte. Mir macht man nichts vor, dennoch ertappte ich mich bisweilen gaffend. Betrachtete diese Kostümparade auf dem Winterfeldtmarkt und bei KAISERs an der Kasse, leicht amüsiert, oftmals ungläubig, aber stets mit höchster Contenance.
Eines ist gewiss, Angst muss man keine haben, die tun einem nichts, auch wenn sich meine Mutter vor einigen Jahren, über Ostern gerade zu Besuch in Berlin, wunderte, dass so viele Neonazis unterwegs seien. Eine Verwechslung, hervorgerufen durch optische Irritation. Also bitte, das könnte jedem passieren.
Individualität als anscheinendes Ausschlusskriterium der Lederszene, lässt sie sich gleichen, wie ein Ei dem anderen, selbige schätzungsweise inbegriffen.
Eines meiner größten Probleme bereitete mir in diesen Tagen jedoch die physiologische Grundausstattung des landläufigen Ledermannes, da diese meinem eigenen Phänotyp zu einhundert Prozent gleicht. Die Glatze ist ein vorausgesetztes Must-have, eine mehr oder minder gebändigte Bartkreation, semiprominente Brustmuskulatur mit flächendeckendem Haarwuchs, sowie eine überdimensionierte Sonnenbrille, die natürlich nach eigenem Ermessen absetzbar wäre. Und somit war ich auf einmal einer von ihnen, gehörte dazu und nahm teil, ohne Teilnehmer sein zu wollen.
Aber nicht mit mir, meine Herren! Die Lösung: Abgrenzung durch Design! Ich hüllte mich also über die Osterfeiertage in vollem Bewusstsein großzügig in Paisleymuster, florale Seidenhemden und blumiges Parfum. Auch mal eine Erfahrung, und, weiß Gott, keine schöne. Ebenso unschön war das disharmonische Odeur-Quartett, das die vermeintlich harten Jungs umspielte und durch die Straßen wehte. Eine Geruchsmischung aus Schweiß eines älteren Semesters, Poppers, Lederimprägnierspray und Crisco Bratenfett.
Wer es denn mag?!
Ich übte mich in christlicher Nächstenliebe, saß, umschlungen von einer Aura der absoluten Toleranz, in einem Café und schaute gelassen auf barpopoige Männer, die ihre Freilufthängebacken zur Schau stellten, bevor sie nach Sonnenuntergang in den Bezirksdarkrooms verschwanden, um in die Analen der unterarmigen Einfuhren einzugehen.
Ostern ist vorüber. Die Toleranzgrenze wieder abgesenkt. Die Leder-Dollys haben ihre Designer-Trolleys gepackt und wackeln in Richtung Flughafen Tegel.
Und hier stehe ich nun, als einsame Delegation, winke und lächle ihnen hinterher. Ihnen, die sie ihre Heimreisen zurück ins dörfliche Idyll antreten, aus dem sie vor 5 Tagen in Richtung sündhaftes Berlin aufbrachen, mit nicht weniger ausgestattet als ihren Begierden, Verlangen und Lederchaps. Derangiert sehen sie aus, übernächtigt, zu viele Drogen, noch mehr Alkohol, und vielleicht ein wenig ausgeleiert, geht es nun zurück in die Provinz. Der Traum des bösen Jungen, des Bad Boys, ist für dieses Jahr ausgeträumt. Das „Urbi et Orbi“ ist gesprochen. Und bevor Herr Wenzel, aus der Sparkasse in Dierfeld, und Herr Köhler, aus dem ansässigen Steuerbüro in Wiedenborstel, die frischgefettete Lederkluft wieder nach hinten in den Kleiderschrank hängen, rufe ich ihnen ein allerletztes mal hinterher: „Frohe Ostern... aus Berlin.“

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