Montag, 23. Mai 2016
Steuerbescheid
„Schreib mal wieder“ war einst ein bekannter Werbeslogan der deutschen Post, man erinnert sich. In Zeiten von E-Mail, SMS und Facebook eher eine traurige Erinnerung ... Ganze Sätze aus Tinte auf Blatt Papier. Seit Einzug des elektronisierten Schriftverkehrs, mutierte der Briefkasten daher zu einer Begegnungsstätte der überraschenden Frustration. Warum ?! Nun ja, abgesehen von den beiden jährlich eintreffenden Ansichtskarten, verglühende Sonne an beozeantem Horizont, des aktuellen IKEA Katalogs und der Werbung vom Billig-Thai-Imbiss an der Ecke, erwartet einen nur noch kontodezimierende Korrespondenz in Form von Rechnung und Mahnung hinter dem kleinen, an Adventskalender anmutenden Türchen.
Die Tagesplanung sieht einen Einkauf der notwendigsten Lebensmittel, einen Zwischenstopp für Kaffee und Kuchen, sowie einen Besuch meines Fitness-Studios vor ... Also, Tasche über die Schulter geschwungen, freudig treppab geeilt, schnell noch in den Briefkasten geschaut ... Ein Fehler !
Der große Umschlag, beschriftet mit dem Namen meiner Steuerberaterin, lässt, reflexartig, meine Magenwandmuskulatur spürbar schmerzhaft kontrahieren... Betreff: Steuer 2011 (leichtes Herzrasen) Gegenstand: Steuernachzahlung (überproportionale Schweißbildung auf Stirn und Oberlippe)Betrag: 7.248,- EUR (spontanes Erbrechen) Dummerweise in den Briefkastenschlitz der Familie Özer aus der ersten Etage. Egal, die kann ich eh nicht leiden, der Sohn grüßt mich nicht einmal im Treppenhaus.
Kurzes überprüfen meiner Sehtüchtigkeit, zweiter Blick auf die eben gelesene Summe ... kein Zweifel, Verwechslung ausgeschlossen, ich bin soeben verarmt worden !
Spannend, sofort beginnt das Hirn verschiedenste Strategien zur Finanznotsituationsregulierung zu entwickeln ... Unbrauchbar, gar schambar lächerlich !
Zugegeben, eine blöde Idee, mich der Backwarenverkäuferin (Typ: stark verblühte Schützenkönigin, wild glänzendes Make-up, gut zwei Nuancen zu dunkel, Haartönung Marke verblassender Ansatz in Aubergine, Frühschoppenbesucherin), als Lustknabe anzubieten ... Prostitution für eine lächerliche Baguettestange ist nun wirklich keine akzeptable Lösung. Also verpacke ich meinen Genitalbereich wieder, den ich zu Werbezwecken großzügig vor den ranzigen Puddingteilchen entblößt hatte, und verlasse, ohne Brot und unter den verstörten Blicken der restlichen Kundschaft, den Laden.
Ein kurzer Anruf bei meinen Eltern, einfach um ein paar beruhigende Worte zu hören, man braucht das. „Das letzte Hemd hat keine Taschen !“, lautet der Kommentar meiner Mutter. Bitte, das soll alles sein ? Ich lege auf.
Dennoch starte ich einen Blindversuch an der Supermarktkasse. Salat, Paprika, Tüte Milch, Tafel Schokolade, gerade im Angebot und das verpasste Brot ... 4,78 EUR ... Ich:„Das letzte Hemd hat keine Taschen !“ (hingebungsvoll gütig lächelnd, wichtig) ... eisiges Schweigen von Seiten der Kassiererin ... 4,78 EUR stehen weiterhin im Raum ... Ich wiederhole mich (hingebungsvoller gütig lächelnd, weiterhin wichtig) ... „Ick wees ja nischt, wat ihnen im Hirn quer geht , aber entweder se zahlen jetzt, oder se machen, dat se Land jewinnen !“
In meinem Stammcafé treffe ich auf Klaus, obdachlos, das Straßenmagazin „Motz“ verkaufend. Ob er eventuell einen Assistenten auf 450,- EUR Basis gebrauchen könnte ? ... Pardon, pardon, man wird ja wohl mal fragen dürfen !?
Im Sportstudio angekommen klage ich jedem und wirklich ausnahmslos jedem, ob hörwillig oder nicht, ist mir in diesem Fall unvorstellbar egal, mein bevorstehendes Leid. Von Natur aus werden Menschen unter 80 kg schweren Kurzhantel nun mal eher fluchtträge. Aus der überaus gerechtfertigten Überlegung, daß ich mir die Fitness in nahender Zukunft aus Gründen der Budgetknappheit nicht mehr werde leisten können, nehme ich an jedem einzelnen Trainingskurs des Abends teil ... Bauch-Beine-Po, Body Transformer, Yoga, Spinning I, Spinning II, Step Aerobic und Zumba. Es verwundert daher wenig, daß der Verbrauch von 5727 Kalorien eine klare Bewusstseinsfokusierung in dem darauffolgenden Dampfsaunaaufenthalt schlichtweg unmöglich macht. Ein mehr als unangenehmer Moment, sich nach kurzer Ohnmacht erwachend, mit blankem Hintern auf kalter Steinfliese wiederzufinden.
Etwas derangiert an unserer Haustüre ankommend, treffe ich den Sohn der Familie Özer vor dem Briefkasten an. „Guten Abend !“, meinerseits ... Stille Ignoranz seinerseits. „Sie haben Post !“

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