Montag, 23. Mai 2016
Supermarkt
Nun gut, wir leben in Zeiten eines stetig wachsenden Desinteresses an unseren Mitindividuen . Anonymität schafft sterile Konfliktfreiheit... Wunderbar ! Wir holen unser Bargeld aus dem Bankautomaten und kommen somit nicht in den Genuss des kleinen Plauschs mit Herrn Rüster vom Kassenschalter. Wir buchen den Flug nach Wien im Internet und lernen daher niemals Frau Bressler aus dem Reisebüro kennen. Wir bestellen unsere Literatur bei Amazon.de und waren daher noch nie in der Buchhandlung von Fräulein Menzel neben dem Blumenladen in der Querstraße nach der Ampel. Wir können auch die Nachbarn in unserem Haus nicht namentlich zuordnen, haben weder die erste, noch die zweite Schwangerschaft von der komischen Trulla im Erdgeschoß mitbekommen geschweige denn den Tod von der etwas streng riechenden Oma von gegenüber, die mit den vielen Katzen in Ihrer Wohnung.
Aber es gibt einen Ort innerhalb der Grenzen dieses Landes, an dem Anonymität und Distanz zu einhundert Prozent nicht existieren, nie existiert haben und auch nie existieren werden... Niemals... Die Supermarktkasse an einem Samstagabend !
Ich stehe also am heutigen Samstag gegen 19.30 Uhr im Supermarkt meines Vertrauens, der Kaiser's am Nollendorfplatz, an der Kasse... eher gesagt, in Sichtweite. Es ist ein selbsterwähltes Schicksal, dem man mit etwas Organisationstalent und Disziplin durchaus hätte entgehen können. In einer scharfsinnigeren Vergangenheit hatte man zwar fünf Zahlstationen konstruiert, war sich jedoch völlig im Klaren, daß davon nur maximal zwei gleichzeitig geöffnet sein werden. Die Warteschlangen der Kundenkönige und Königinnen erreichen somit zweistellige Metermaße. Man darf sich aber, weil die Demokratie auch hier nicht außer Kraft gesetzt ist, entscheiden zwischen der Reihe, die sich an den Süßwaren und Spirituosen vorbeischlängelt, und derjenigen, in der man sich durch Haushaltsreiniger und Tiernahrung durchwarten muß. Ich entscheide mich für Variante eins... Ein Fehler ! Die neue Aushilfe, höchstens 13, mit der spannenden Kombination aus Eiterakne und Piercingkunst im Antlitz und dem Intelligenzquotienten eines Laugenbrötchens, wird in diesen durchaus harmonischen Geschäftsstunden geprägt auf seine Zukunft im Einzelhandel.
Nun sind die Kassen bei Kaiser's von einem bestimmt ansonsten überaus fähigen Architekten so eng konzipiert worden, daß Menschen mit einem Bodymassindex von über 17 akute Atemnot und klaustrophobische Panikattacken erleiden werden müssen. In diesen Momenten hilft nur eines, nämlich der Blick nach vorn.... nach vorne zum Warenfließband, denn dahinter liegen die zwei "F's"... Freiheit und Frischluft !
Als ich nach etwa vierundvierzig Minuten das Band erreichen kann, mit blutigen Achillessehnen, da mir mein Hintermann ununterbrochen seinen Einkaufswagen in die Haxen rammt.... weil es natürlich so schneller gehen wird, wenn ich blutüberströmt zusammenbreche, die Ambulanz erwarte, die mir ein Erythrozytenkonzentrat anhängen wird, damit ich meine Dose Zuckermais, die ich auch nicht nur eine Sekunde habe fallen lasse, bezahlen kann...lege ich mein sorgsam auserwähltes Artikelsammelsurium auf das Band. Ordentlich, man möchte es ja nett haben und in einer ausgeklügelten Reihenfolge, damit es beim Einpacken nicht zu unerwünschten Quetschmakeln kommen kann.
Kaum liegt dieser kleine keimübersäte Trennbalken hinter meinen 2,99 Euro teuren Bio-Eiern, wird mein Sortiment von hinten nach vorne, mit einem Ruck, zu einem 1,40 Meter hohen Berg aufgetürmt. Verursacher ist der ältere Mann hinter mir, den ich nun sehen kann, da ein Umdrehen in der Vor-Der-Kasse-Todeszone vorher unmöglich war. Sein Ziel vor Augen, die gewonnen acht Zentimeter auf dem Band mit möglichst vielen Waren zu bedecken, werde ich gnadenlos in meine Vorkundin gedrängt. Die Grenze zwischen Unverschämtheit und sexueller Belästigung ist in diesem Augenblick nicht mehr klar zu ziehen. Nachdem die Frau eine Unendlichkeit in ihrer aus allen Nähten platzenden Handtasche nach ihrem Portemonnaie gesucht hat, da es eine unerwartete Überraschung an der Kasse ist, bezahlen zu müssen, bin ich mit dem Austausch von Zahlungsmitteln an der Reihe.
Beim Zücken meiner Geldbörse steht mir mein Rücknachbar so nah, daß ich kurzzeitig zum Überlegen gezwungen bin, ob es nun meine Verpflichtung ist, aus gastgeberischer Höflichkeit, meine mitgeführten Familienphotographien zu zeigen: "Vor dem Brandenburger Tor, meine Eltern, mein Freund am Strand in Portugal..."
Beim Rausgehen wünscht mir die Frau vor dem Eingang, die dort immer die Obdachlosenzeitung verkauft, einen schönen Abend. Also bitte, soviel Nähe und Intimität... das ist ja unzeitgemäß !

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