Donnerstag, 26. Mai 2016
Stehaufmännchen
Würde man sich im Ausland, völlig unabhängig davon welches, näher, ferner, innereuropäisch oder doch lieber Übersee, in eine Fußgängerzone stellen, wahllos und rein zufällig vorbeikommende Menschen ansprechen und diese darum bitten, ihre tagesspezifische „To-do-Liste“ für einen Augenblick zu unterbrechen um den, ihrer Ansicht nach, typischen Deutschen mit wenigen Worten grob zu umreißen, so würde man, plus minus, das gleiche Bild mental und in Farbe gepinselt bekommen.
Vor ihrem geistigen Auge sehen sie einen bierbäuchigen Mann mit Sandale und hochgezogener weißer Tennissocke, in eine Tracht gepresst, bebärtet, fleißig, pünktlich, hart artikulierend, gefühlsarm, Sauerkraut kauend und der viel gerühmten deutschen Wertarbeit zugetan. Das ist uns bekannt, das wissen wir, wir wissen es wirklich.
Aber das wichtigste Merkmal würde nicht genannt , denn es erkennt kaum jemand, es springt einem nicht sofort ins Auge, man registriert es nicht umgehend, man muss sie dafür genauestens kennen, diese Deutschen. Sie beobachten, analysieren, gar studieren. Der Deutsche ist nämlich ein: Stehaufmännchen!
Doch mit dieser These ist Vorsicht geboten, denn es sind nicht etwa die Trümmerfrauen von ‘45 gemeint, oder gar eine Nation nach schwarzgelb, vor schwarzrot.
Nein, es ist viel einfacher, gar simpel, bodenständiger. Kein Trend, keine Mode, ein Urbedürfnis quasi, von der Natur gegeben.
Der Deutsche an sich steht einfach mal gerne. Er steht gerne auf, er steht gerne an, er steht gerne rum. In dieser Hinsicht, macht uns keine Nation dieser Welt etwas vor. Es ist wirklich wahr und es ist belegt.
Flughafen Berlin. Berlin Tegel wohlgemerkt.
Wer kennt es denn nicht ? Man kommt am Hafen seiner gebuchten Flugflotte an, es ist 14:00 Uhr, man druckt sich schnell die Boardingcard aus, Fensterplatz, Boarding Time 14:40 Uhr, nein, nur Handgepäck, Laptop aus dem Rucksack, Deo, Zahncreme, Nachtcreme, Augencreme, alles in gezipptes Plastik verbannt, nun den Augen der Umwelt wehrlos ausgeliefert, Pflegeintimitäten Ade, sogleich Gürtel dem Hosenbund entrissen, auch ohne Ansage, man ist ja schließlich Profi, rotes Licht, kurzer Körperkontakt zwischen zwei Fremden, dann alles wieder gut verpackt, geschnallt und verstaut, großverpacktes Dutyfreegucken, zum Gate schlendern, abseitigen Platz suchen, Handy raus, warten. Es ist Punkt 14:10 Uhr. Boarding Time 14:40 Uhr ? Ein bloßes Zeitkonstrukt, wer das glaubt ist Anfänger!
14:20 Uhr. Man kann bereits, wenn man ganz genau hinsieht, etwas Geduld dabei beweist, sensibel dafür ist, ein erstes nervöses Zucken in den Gelenken der unteren Extremitäten Vereinzelter erkennen.
14:25 Uhr, Tendenz eher früher. Erste Individuen versammeln sich, getarnt als reine Zufälligkeit, leider durch schlechtes Schauspiel entlarvt, vor dem schmalen Ausgang, der Glastür, hinter der sich der Gang zum Flieger befindet, die Speiseröhre in den Bauch der Maschine.
14:30 Uhr. Es hat sich schon eine beachtenswerte Ansammlung von Menschen gebildet, in sauberer Formation, Gesicht nach vorne gewandt, das Ziel vor Augen. Blicke huschen auf Armbanduhren und Mobiltelefondisplays in Halbminutenintervallen, denn die Zeit muss doch schneller vergehen, wenn man sie dabei beobachtet. Alles andere wäre unhöflich und daher inakzeptabel.
14:40 Uhr. Es ist Boarding Time.
14:40 Uhr. Es wird nicht geboardet. Wie auch, wenn nicht einmal jemand vom Bodenpersonal am Gate ist? Kein Grund für die bis dato Unbeteiligten, sich nicht in die schier endlos wirkende Schlange einzureihen, die sich nun wie ein tot daliegendes Reptil durch die Stuhlreihen schlängelt. Jacke über den linken Arm geworfen, Aktenkoffer in der rechten, noch ein paar letzte SMS in den Orbit versandt, bevor man eine Stunde reine Flugzeit vom mobilen Netzt getrennt und brutalst seinen eigenen Hirnkapazitäten überantwortet wird, Ticket und Reisepass aus Mangel an ausreichend natürlichem Greifwerkzeug zwischen die Lippen gepresst. Stehen. Warten.
14:50 Uhr. Eine junge Frau, dunkler Pferdeschwanz, Ende zwanzig, vielleicht jünger, oder älter, bei den Make-up Mengen nicht zu beurteilen, komplett in rot gekleidet, Blazer, Rock, Strumpfhose, Schuhe, darin kann niemand, darin darf niemand gut aussehen, mit kessem Hütchen, bewaffnet mit Latte Macchiato im Pappbecher, stöckelt so schnell es ihre miniberockten Beine in Uniform zulassen auf den Flugsteig zu. Allein ihr Erscheinen, Heiland in Grundfarbe, der uns das Tor, hier im wahrsten Sinne des Wortes zum Himmel eröffnen wird, reißt auch die restlichen, bis dahin noch Sitzenden, um ihre intellektuelle Überlegenheit gegenüber dem allgemeinen Herdentrieb zu demonstrieren, von ihren Stühlen. Sie positioniert sich routiniert neben dem Lesegerät, greift zum Mikrofon, säusel, säusel auf Deutsch, säusel, säusel auf Englisch. Boarding !
Und jetzt, da der Startschuss unwiderruflich gegeben, drückt sich das Gebilde aus Menschenleib unaufhaltsam nach vorne. Was vorher noch als träge Masse in der Wartehalle da lag, wird mobil, erwacht zu neuer Vitalität, es wird nach vorne geprescht, es wird gedrängelt, aufgerückt, nachgezogen, näher dran, schneller rein, keinen Spalt, keine Ritze unausgefüllt lassen. Dass die Sitzplätze reserviert, gar fest zugeordnet sind, es bis zu diesem Tag noch wirklich niemals vorgekommen ist, dass die von Natur aus bösartig veranlagte Stewardess Melanie, Nachname unbekannt, noch bevor alle Passagiere einsteigen konnten, die Flugzeugtür zugeknallt hat, und durch das kleine Fenster hämisch nach draußen rief: „Ihr kommt hier nicht mehr rein!“, dann debil lächelnd, winkend in Richtung Startbahn rollt, die verdutzen Restfluggäste etwas verloren auf der Treppe zurückblieben, und während ihnen ein laues Lüftchen um die Nasen wehte, aus lauter Verlegenheit zurückwinkten, ist in diesem Moment nicht von Belang. Wo eine Menschenschlange ist, da wird sich auch gefälligst angestellt. Wir sind immerhin Deutsche.
Einen ruhigen Flug später, immerhin mussten sich alle von den Strapazen des Einsteigens erholen, ihren Tomatensaft schlürfen und das Bordjournal durchblättern, setzen die Räder des Flugzeugs auf der Landebahn auf. Bremsen, ausrollen, Parking Position, Pech, Außenposition, also, auf Busse warten, schlimmer noch, auf eine Treppe warten.
Es wären geschenkte Minuten der Ruhe, aufgezwungener Stillstand, zum Genießen freigegeben.
Aber nicht mit uns! Sicherheitsgurte klicken im Sekundenbruchteiltakt auf, man quält sich in den engen Gang, über sitzenbleibende Mitreisende hinweg, Unverschämtheit diese Trägheit, entleert unter Ziehen und Zerren das Handgepäckfach, wobei man seinem Sitznachbarn mit der überpackten Reisetasche die stilsichere Fönfrisur verwüstet, Risiko Gangplatz, Winterjacken werden übergestreift, Wollschals kunstvoll gewickelt, Handschuhe angezogen, aufgrund von Platzmangel und Streckmöglichkeiten in gar veitstanzartigen Verrenkungen. Der Hitzestau lässt Gemüter überkochen, Nerven zum Zerreißen anspannen. Die Halbglatzen glänzen vor Schweißbeperlung, Lackfinger hämmern den Entsperrungscode in Smartphones. Es folgt ein Klangteppich aus Willkommensmelodien, Anruf-in-Abwesenheit-Mitteilungen und eintrudelnden SMS. Permanentes Hinunterbeugen zu den kleinen Fenstern, aus denen man vor wenigen Augenblicken noch so spielend hinausschauen konnte als man saß, vervielfachen das Risiko eines Vorfalls an den zusammengestauchten Bandscheiben, Blut schießt in Krampfadern, der dehydrierte Organismus wird ruckartig hochgefahren. Denn eines ist gewiss und nicht zu unterschätzen: Man steht schon mal. Und zwar ab jetzt noch recht lange. Es ist nun aber mal genauso wichtig, nachdem man schnell in den Flieger hineinkam, diesen genauso schnell wieder zu verlassen, damit man als erster im Bus ist, am Gepäckband, um einen guten Platz zu ergattern, um vor den anderen dort zu sein, um vor den Koffern dort zu sein, um warten zu können, stehen zu können, stehen und warten zu können.
Und dieses Bild wird uns keiner der Befragten im Ausland zeichnen können. Aber ich. Denn ich habe sie durchschaut, die Deutschen, diese Stehaufmännchen, diese Deutschen zu denen auch ich selbst gehöre, deren kulturelles Genom ich in mir tief verwurzelt trage. Aber ich versuche diesem Urtrieb zu entgehen, mich diesem Schauspiel zu entziehen, nicht zu ihnen zu gehören. Und es ist eigentlich so einfach, verlangt zugegebenermaßen Disziplin, doch man kann sie überlisten, ihnen zuvorkommen.
Daher stelle ich mich, wenn ich mit dem Zug von Frankfurt nach Berlin fahre, auch immer schon ab Göttingen in den Gang.

... link (0 Kommentare)   ... comment


Gedanken eines Sohnes, der nicht mehr zur neuesten Generation gehört
Gedanken eines Sohnes, der nicht mehr zur neuesten Generation gehört:

Heute, auf den Tag genau, an diesem 01. September 2015, feiert mein Vater seinen 65. Geburtstag.
Um ganz genau und ehrlich zu sein, feiert er ihn erst am Freitag, aber er begeht ihn heute.
Er, mein Vater, Jahrgang 1950, begeht heute seinen 65. Geburtstag!
Aber was ist mit mir, was bedeutet das für mich?
Das Verständnis von dem Begriff „Alter“, alt sein, verändert sich im Verlaufe eines Lebens. Dieses Wort, das von Natur aus etwas nicht Greifbares - ja was eigentlich? Vielleicht einen Zustand? - benennt, verändert demnach seine Bedeutung und Wertigkeit im Fortschreiten des eigenen Daseins.
Als Kind, das weiß ich noch genau, habe ich meiner Mutter mal von einer älteren Frau erzählt.
„Wie alt war sie denn?“, fragte sie daraufhin.
„Etwa 30“, war die Antwort.
Mein Einschulungsfoto zeigt meine damals dreißigjährige Mutter, demnach bereits eine ältere Frau, die ihren Sohn, inklusive seiner riesigen Schultüte, zum ersten Unterrichtstag begleitet.
Mein Kind, sofern ich denn eines hätte, wäre nun auch schon in der siebten Klasse.
Wann hat man denn bitte, ohne es zu bemerken, seine Eltern eingeholt? Und noch viel schlimmer, warum fühlt man sich dabei immer noch wie dieser kleine Schuljunge?
Inzwischen würde ich auch 65 nicht mehr als „alt“ bezeichnen, dennoch ist es schon eine Ansage, die mir in unachtsamen Momenten, in schwachen Augenblicken, im Beisein vom Gefühl der Einsamkeit, ungute Gedanken, ganz leise und zunächst unmerklich, ins Hirn flüstert, bis sie, die Grenze der Ignoranz überschritten, mit voller Wucht auf mein Bewusstsein knallen.
Manchmal, spätabends, oder auch frühmorgens, wenn das Badezimmerlicht ein wenig zu schnell den Raum erhellt, das Licht von den vergilbten Kacheln reflektiert, eine Spur zu grell auf das schon ermüdete, oder noch verquollene Gesicht trifft, bevor ich den Spiegel des Alibert gewohnheitsgemäß rasch zur Seite klappen konnte, wird es mir bewusst. Manchmal, in sorgenvollen Momenten, oder in arbeitsreichen, in stressvollen, schwierigen Zeiten, wenn ich vergesse, mir gegenüber aufmerksam zu sein, erschrecke ich bei einem Blick auf das eigene, zurückschauende Spiegelbild, vielleicht im dunklen Fenster der durch den Tunnel rauschenden U-Bahn, kurzzeitig.
Die innere Wahrnehmung, weicht von der äußeren ab und eines ist gewiss... unsere Eltern werden älter und ziehen uns, wenn auch unverschuldet, unbarmherzig mit sich.
Natürlich taten sie das schon immer, aber es dauert eine gewisse Zeit, bis es einem selbst bewusst wird.
Ich, bereits das Ende meiner Dekade in Sichtweite habend, kann mich noch genau an den 40. Geburtstag meines Vaters erinnern, der nun inzwischen in absehbarer Zeit mir selbst bevorstehen wird.
Wird das schwierig? Gute Frage. War es denn schwierig 30 zu werden? Nein, nicht wirklich. Es war schwieriger Ende 20 zu sein. Es ist eine reine Kopfsache, denn am Ende von etwas zu stehen ist erfahrungsgemäß schwieriger, als am Anfang von etwas zu sein. Demnach dürften auch keine größeren Probleme beim 40. auftreten.
Im Nachhinein eh alles nicht so schlimm.
Wo liegt also das Problem?
Problem? Das Problem? Probleme... Es sind Probleme. Es sind eigentlich genau zwei Probleme.
Erstens, man ist nicht alt. Zweitens, man ist nicht jung. Dazwischen, man ist irgendwie so dazwischen. Nicht Fisch, nicht Fleisch.
Das Tempo, in dem die Zeit vergeht, kann einem schon Furcht einflößen. Sie vergeht zwar nicht schneller, das ist pure Einbildung, aber sie vergeht dennoch stetig und man hört sich auf einmal über Dinge sprechen, die Jahrzehnte zurück liegen und dennoch ganz klar in der eigenen Erinnerung sind - Weißt du noch damals? - Schon gruselig, aber auch aufregend - ein bisschen wie Verkehrsunfall gucken.
Und darin liegt vielleicht auch der Knackpunkt beim Geburtstag meines Vaters. Die gemeinsame Strecke, die uns beiden bleiben wird, ist erwartungsgemäß kürzer, als die, die wir bereits zusammen gegangen sind und das, genau das, mag ich nicht am älter werden.
Sind wir denn wirklich schon erwachsen?
Äußerlich schon lange, aber innendrin, da sitze ich noch immer mit Oliver, Eddi, Vivianne, Nicki, Mimi, Katrin, Bärbel, Joachim und all den anderen auf den Mülltonnen, oder spiele „Räuber&Gendarm“ um vier Blocks, oder „Street Fighter 2“ bei Cola und Äpfeln.
„Wer nicht alt werden will, sollte sich jung erschießen“, sagt meine Mutter immer.
Ein wahres Wort gelassen ausgesprochen.
Was bleibt uns also zu tun, uns, die wir in einer Gesellschaft leben, in der wir vorgegaukelt bekommen, Jugend sei das größte Gut, Photoshop uns den Blick verklärt hat, die in Klammern gefasste Zahl hinter dem Namen eines Künstlers, Sportlers, eines Menschen, mehr wert ist, als seine Kunst, seine Leistung, sein Charakter, seine Erfahrung und Persönlichkeit?
Ganz einfach.
Man blicke auf die nachkommenden Generationen, beneide sie ein wenig um das straffe Hautbild und das volle Haar, belächle sie danach für ihre Angst vor dem Leben und ihren unerfahrenen Umgang mit den Widrigkeiten des Alltags, übertrumpfe sie dann mit der eigenen Überlegenheit und Großartigkeit, und lehre sie somit den gelassenen Umgang mit dem Wahnsinn des Lebens.
Es ergibt sich ein Fazit:
Siehst du, Papa, ich habe zwar noch nicht ausgelernt, stehe aber, glaube ich, ganz gut da. Und wenn dein Sohn aus den ersten Anflügen seiner Midlifecrisis heraus ist, kann uns diese Welt von gebotoxten Ewig-Endzwanzigern, mal gepflegt am Arsch lecken.
Ich wünsche dir alles Liebe zu deinem Geburtstag!

... link (0 Kommentare)   ... comment